Venedig im November

Du gehst über viele Brücken. Sie sind schmal und wölben sich steil über die engen Kanäle. Wenn du am höchsten Punkt einer solchen Brücke stehst, fühlst du dich wie ein Doge und regierst über den Kanal. Und die Stadt dazu. Du schließt die Augen. Du fühlst den schweren Brokatmantel auf deinen Schultern. Und den Dogen-Hut auf deinem Kopf. Die Dogen haben doch Hüte getragen, oder? Als Zeichen ihrer Würde. Der Hut hatte sogar einen Namen. Aber den weißt du nicht mehr. Du hebst die Hand zum wohlwollenden Gruß an das Volk. Ein stolzes Volk. Ein Volk von Seefahrern – das Abenteuer im Blut. Stolz siehst du über die unübersehbare Menge der geschmückten Gondeln hinweg, die sich zum Umzug in der Lagune formieren. Weil du Geburtstag hast. All das tust du mit geschlossenen Augen… Da zupft dich etwas am linken Hosenbein. Ziemlich weit unten. Ist das der kleine Doge? – Na ja, vielleicht wird er einmal einer. Im Moment sieht er allerdings nicht so aus. Eher wie ein winzig kleiner, hübscher Roma, der dir die Hand fragend entgegenstreckt. An seinem linken Ohr klebt ein Fleck von gestocktem Blut. Wer kann so ein süßes, kleines Gesicht schlagen? Nervös ist er, weil zwei Carabinieri von der nächsten Brücke herüberschauen. Sie gestikulieren. Da nimmst du ihn an der Hand und gehst mit ihm von der Brücke hinab und in die nächste Gasse. Außer Sichtweite gibst du ihm dann etwas Geld – dein Beitrag, damit auch wirklich einmal ein Doge aus ihm wird.

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So oft warst du in Venedig, dass du nicht mehr weißt, wie viele Male. Sehr oft jedenfalls. Wie alt warst du damals? Du weißt es nicht genau. Zwischen 24 und 26. Du warst alleine dort. Nur du und deine alte, russische Leica. Dazu ein paar Objektive. Und sehr viel Filmmaterial. Zwei November lang. Jedes Wochenende. Und danach immer wieder. Es war ganz leicht: Freitag abends um 19 Uhr steigst du in den Zug. Schlafwagen. Um 7 Uhr Früh direkt vor dem Canale Grande steigst du aus und nimmst das Vaporetto. Du wohnst immer in dem gleichen, kleinen Hotel. Das Zimmer ist nicht groß, aber das Badezimmer ist es – und hell dazu. Vollständig mit Delfter Fliesen verkleidet. Da fühlst du dich wohl. In der Rezeption steht immer der gleiche Mann mit dem schwarzen Schnauzer. Hat der denn nie frei? „Buongiorno, Signora“, sagt er. „Signorina“, sagst du. „Ah, si.“ Dieses Spiel spielt ihr jedes Mal. Und er lacht. Das Hotel liegt gleich neben dem Teatro la Fenice. Es ist uralt. Vielleicht das kleinste Opernhaus der Welt. Doch das Größte von Venedig. Der Stolz der Venezianer. Später ist es abgebrannt. Das Teatro. Nicht das Hotel. Das gibt es immer noch. Es war ein Kulturschock für ganz Italien – damals. Lange sah man die Ruinen neben dem Hotel.

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November. Das bedeutet: keine Touristen. Keine Fremden. Keine Souvenirs vor jedem Laden. Keine Hawaii-Bermudas in den Kirchen. Kein 12 Stock hohes Kreuzfahrtschiff überschattet den Markusdom. Der Markusplatz vereinsamt. Träumst du nur? Wenn du über den weiten, kaum belebten Platz schlenderst, bist du schnell von einer Wolke von Tauben eingehüllt. Sie kommen aus dem Nichts. Es füttert sie niemand. Außer den Globetrottern. Und die sind nicht da. Im Caffè Lavena unter dem mehrstöckigen Glasluster aus Murano-Glas, unter dessen Glühbirnen dich viele kleine Mohrenköpfe anstarren, kannst du dir jeden Tisch aussuchen, den du willst. Du nimmst den schönsten am Fenster. Der Kaffee ist stark und schwarz. Du wirst ihn lieben. Der Kellner gibt dir gratis ein paar Dolci dazu. Er hat sogar Zeit, zu lächeln. „Bis morgen sind sie ohnehin hart“, sagt er. Er hat sie dachziegelartig auf einen Teller mit Goldrand gelegt. Darunter eine Serviette mit Lochmuster. Du streckst die Stiefelspitzen gemütlich unter den Tisch und kramst ein paar Brocken Italienisch aus deinem Gedächtnis. Du willst mehr als „Grazie“ sagen.

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Der Nebel schleicht durch die engen Kanäle. Er verschlingt die Kirchturmspitzen. Ringsum lauter Kirchtürme ohne Kreuz obenauf. Manchmal auch ohne Dach. Und das mitten im katholischen Italien! An manchen Tagen versteckt der Nebel sogar den hohen Bug der Gondeln. Dann schaukeln sie traurig und kopflos an ihren Leinen. Du wagst dennoch eine Fahrt. Du bittest den Gondoliere, nicht zu singen. In aller Stille möchtest du unter der Seufzerbrücke hindurchgleiten. Und was sollst du mit einem Liebeslied anfangen – so allein? Das reizt dich höchstens zum Lachen. Weil es so absurd ist. Und dann ist die Stimmung dahin.
Das Wasser klatscht gegen bröckelnde Stufen und blätternde Wände. Der Nebel hängt wie Spitzenvorhänge von den Balkonen. Das Ca d´Oro ist schon längst außer Sicht und du hast vergessen, ein Foto zu schießen. So schön war es im Nebel. So verwunschen. Ein einsamer Straßenhändler preist am Kanalrand seine Ware an. Er streckt dir die Hand übers Wasser entgegen. Mindestens dreißig Goldketten hängen daran herunter. Talmi. Schon bist du vorbei. Scusi.

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Im Vaporetto nach Murano. Sogar die Farben der bunten, stets frisch bemalten Häuser lachen nur gedämpft. Du suchst deinen Weg durch die engen Gassen. Da war doch irgendwo der Glasbläser, der diesen wunderschönen Delfin gemacht hat. Vor deinen Augen. Du warst fasziniert. Wie hypnotisiert. Es war heiß in der Werkstätte. Doch er hatte ein weißes Hemd an. Dann hat er dir gezeigt, dass die Figur nur der Fuß eines reich verzierten Weinglases ist. Da hast du gestaunt. Bedauernd hast du die Schultern hochgezogen. Scusi. Zu teuer. Er hat dir das Glas schließlich fast geschenkt. Er war schon alt. Sein Rücken war krumm. Darum war er auch da. Die jungen Glasbläser kommen nur in der Hochsaison. Du hast eine Flasche Rotwein gekauft und bist zurückgegangen. Du hast gesehen, dass er nur mehr drei Zähne hatte. Ganz vorne. Du konntest es sehen, weil er so gelacht hat. Du hast mit ihm getrunken. Einen Nachmittag lang. Er hat noch andere Delfine geblasen. Und du hast zugesehen. Das war einer deiner schönsten Nachmittage.

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Murano ist klein und in der Zeit ohne Touristen so gut wie geschlossen. Doch Hunger tut weh. Und Rotwein auf nüchternen Magen war noch nie deine Sache. Tavernen gibt es viele. Die Speisekarten in den Schaukästen eingerollt von der Sonne der letzten Saison. Alle geschlossen. Bis auf eine. Na gut, dann nimmst du die. Im Raum steht der Wirt und wischt sich die Hände in die Schürze. Essen? Er schiebt die Unterlippe vor und wiegt den Kopf. Er schaut dich an. Von oben bis unten. Mustert deine Leica und den Rucksack. Während dein Magen knurrt – so laut, dass er es hören kann. Da macht er eine einladende Geste und geht nach hinten. Und du gehst ihm nach. Dort sitzen an einem langen Tisch in der Küche seine Frau, drei sehr, sehr alte Leutchen und sieben Kinder. Da wird geschaut, dann wird gerückt und ein Stuhl dazugestellt. Und dann sitzt du darauf. Du wolltest Spaghetti. Jetzt bekommst du fünf Gänge. Von Melanzani in Olivenöl gebraten über Saltimbocca bis Zabaione. Und danach Kaffee. So fürstlich hast du noch nie gegessen. So viel gelacht beim Essen hast du auch schon lange nicht. Den Kindern zeigst du einen Trick. Mit zwei Weinkorken. Und sie lachen und reden und reden und lachen. Irgendwann sagst du „Grazie, Grazie“ und ziehst deine Geldbörse heraus. Da schauen sie betreten. Plötzlich ist es ganz still. Da weißt du, du hast einen Fehler gemacht. Nein. Nein. Ciao. Ciao. Grazie. Der Wirt legt dir die Hand auf den Rücken und schiebt dich zur Tür hinaus. Hinter dir dreht sich der Schlüssel im Schloss.

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Du hast einen Stadtplan und stehst dennoch zum dritten Mal an derselben falschen Wegkreuzung. Den Durchgang auf dem Plan hast du schon wieder verpasst. Wie schmal muss der wohl sein? Du willst das Denkmal des Colleoni sehen. Auf seinem Pferd. Und den Platz dort – von hohen, alten Häusern umgeben. Du fragst einen Carabinieri nach dem Weg. Sein Italienisch fließt schnell. Noch schneller seine Gesten. Viermal links und dreimal rechts und dann… Grazie. Grazie. Nach fünf Schritten schon hast du die Reihenfolge vergessen. Du suchst ein Cafe, ein Lokal, in dem du fragen kannst. Du gehst hierhin und dorthin. Durch enge und engste Häuserschluchten. Dann siehst du am Ende einer tiefen Schlucht einen hellen Fleck und an dessen Ende ein Schild: Caffè. Du gehst zielstrebig darauf zu. Die Tür geht auf. Der Wirt tritt vor die Tür. „Colleoni? Prego.“ Er schaut dich an. Dann lacht er und hält sich den Bauch. Du glaubst, er will dir die Hand auf die Schulter legen. Doch er weist über deine Schulter nach hinten. Du drehst dich um. Und da steht er – in seiner ganzen Pracht, in unvergleichlicher Haltung auf seinem Pferd – Condottiere Colleoni. So viel Eleganz hat Verrocchio in Bronze gebannt. Auch für dich.

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Abends bist du müde. Zurück ins Hotel? Nein, du willst auf Hemingway’s Spuren wandeln.
Du findest tatsächlich Harry’s Bar – direkt am großen Kanal. Alle Tische sind besetzt. Du setzt dich an die Bar. Bestellst eine Kleinigkeit und Pinot Grigio. Links von dir sitzt ein britisches Paar und spricht über seine Arbeit in der Bank. Der Sitz rechts von dir ist noch frei. Da setzt sich ein Venezianer hin und spricht dich an. Du magst seinen Blick nicht und wendest dich ab. Das britische Paar senkt seine Stimmen. Sie wollen ungestört über ihre Bankgeschäfte sprechen. Da schaust du in den Aschenbecher, der vor dir auf dem Tresen steht. Betrachtest das Emblem von Harry’s Bar. Er ist schön, findest du. Der Aschenbecher. Du hättest ihn gerne. Wo hat Hemingway wohl gesessen? Vielleicht auf dem Hocker, auf dem du jetzt sitzt? Oder an einem Tisch? Nein. Du siehst ihn auf einem Hocker. Jovial lachend. Laut. Ob er sich Notizen gemacht hat? Ob er hier auch geschrieben hat? Du bleibst nicht mehr lange. Der Venezianer neben dir ist verärgert und bläst dir ständig den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht. Als du bezahlst, fragst du den Kellner, ob du den Aschenbecher haben kannst. Du fragst, was er kostet. Der Kellner verdreht die Augen. „Das fragt keiner. Alle nehmen ihn mit. Er hat keinen Preis. Alles wegen Hemingway.“ Dann serviert er vier Gläser Scotch an den Tisch in der hintersten Ecke und kommt nicht wieder. Du steigst von deinem Hocker und überlegst. Dann steckst du den Aschenbecher ein. Wegen Hemingway.