Die Schönheit Indiens
Okay. Letzter Termin für heute erledigt. Wien. Freitag, kurz nach zwei Uhr nachmittags. Die Sonne scheint. Das Leben ist schön.
Schwungvoll und voll Vorfreude auf den Nachmittag setze ich mich in meinen geduldig wartenden Volvo, der genau gegenüber vom Haupteingang einer großen Privatklinik auf einer breiten und kaum befahrenen Straße steht. Bevor ich starte, werfe ich einen Blick nach links auf die Fahrbahnen. Da sehe ich einen kleinen, weißen Wagen auf der gegenüber liegenden Straßenseite starten und in großem Bogen auf mich zukommen. Aha. Der Fahrer schert sich nicht um das Umkehrverbot auf Schienenstraßen, denke ich. Na ja, ist ja weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen. Noch verfolge ich das Fahrzeug mit den Augen. Doch sie werden immer größer, denn das kleine, weiße Schmuckstück fährt zwar langsam, hält aber zielsicher auf mich zu. Lenken, denke ich… Lenken! Das kann doch nicht… Zu spät. Es kracht. Mein braver, schwerer Volvo wankt kurz. Dann ist er beleidigt und rührt sich nicht mehr.
Wahrscheinlich hat mein Unterbewusstsein sicherheitshalber bis drei gezählt. So lange ungefähr habe ich gebraucht, um zu fassen, dass ein kleines, weißes Raumschiff aus einer unbekannten Galaxie auf dieser unglaublich breiten, völlig leeren Straße die Richtung gewechselt hat, um auf den letzten fünf Metern kerzengerade in meinen linken hinteren Kotflügel zu fahren. Dann steige ich aus, ziehe den Mantel vorne zusammen, denn es ist kalt, und bin neugierig auf diesen Alien. Vielleicht will er nicht erkannt werden, denn er setzt zwei Meter zurück und fährt los – direkt auf mich zu. Da zähle ich nicht mehr bis drei, sondern springe blitzschnell in den Schutz meiner Kühlerhaube. Der Alien winkt mir kurz zu – es scheint ein weibliches Exemplar mit langen Haaren zu sein – und fährt dann unendlich langsam an meinem braven Volvo vorbei, um davor einzuparken. Vorsichtshalber stelle ich mich auf den Gehsteig. Vor meinem Volvo ist Platz für ungefähr vier Autolängen. Ich werde Zeuge minutenlanger Einparkmanöver. Ein Hin und Her. Ein Vor und Zurück. Zuletzt steht das Raumschiff noch immer auf der Straße und der Alien gibt auf.
Ich will es kurz machen. Sie ist schön. Wunderschön. Ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Gestalt, ihre Anmut. Sie stammt offensichtlich aus Indien. Das verraten mir ihr Teint und ihre Gesichtszüge.
„Sorry“, sagt sie und lächelt. Ich bin noch ein wenig sprachlos. „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte“, fügt sie daher hinzu. „Ich wollte bremsen, aber dann bin ich offensichtlich auf das Benzin gestiegen.“ Oha.Mir fehlen noch immer die Worte. Da greift sie nach ihrer Tasche, einer winzigen, eleganten Clutch und nestelt darin herum. Ich stelle inzwischen fest, dass mein Mantel zwei Flecken hat und mein rechtes, schwarzes Hosenbein voller Hundehaare ist.
Ich studiere ihren Ausweis, den sie mir hinhält – mit einem waidwunden Blick aus so wunderschönen Augen, dass ich nicht verhindern kann, sekundenlang zu starren. Sie hat gerade mein wehrloses, geparktes Auto demoliert und als ich ausgestiegen bin, hätte sie mich beinahe gegen die Karosserie gequetscht, aber ich spüre, wie sich meine Mundwinkel gegen meinen Widerstand heben und sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet, das von innen kommt.
Ich lese den Namen langsam und laut. Sie lächelt nachsichtig, wie man ein Kind berichtigt, und neigt den Kopf mit unvorstellbarer Grazie. Dann spricht sie ihn selbst aus. Zuerst den Vornamen, danach den Familiennamen. Ich wage nicht, sie anzusehen, während sie ihren eigenen Namen singt. Ein Name wie Musik – wie Poesie – die unter die Haut geht.
Ich überlege, wie viel leichter ihr die Dinge des Lebens wohl fallen – einfach weil sie diesen klangvollen Namen hat – zu ihrem schönen, ebenmäßigen und ausdrucksvollen Gesicht, das ein Wunder für sich ist.
Na ja, das Fahren eines Kraftfahrzeuges gehört nicht dazu. Und das Ausfüllen eines Unfallberichtes wohl auch nicht, denke ich. Dazu sind solche wie ich da – mit Stupsnase und Sommersprossen auf der Stirn und einigen grauen Haaren im Handgepäck.
„Haben Sie einen Unfallbericht im Wagen?“, frage ich.
„Nein. Auch keine Papiere. Der Wagen gehört nicht mir“, singt sie. Natürlich nicht, denke ich bei mir. Ein kleiner Mittelklassewagen. Geborgt von irgendwem, während ihr makelloser Mercedes vermutlich beim Service steht…„Können Sie die Papiere besorgen?“ Ich mache mir nicht besonders viele Hoffnungen. Aber sie zückt ihr Handy, wendet sich graziös ab und beginnt zu sprechen. Sie spricht lange. Mir wird kalt und ich setze mich in meinen Wagen. Nach einigen Minuten klopft sie ans Fenster, das Handy noch am Ohr. „Mein Schwager sagt, ich solle Ihnen 50 € anbieten“, sagt sie anmutig. Gut… wieder bis drei zählen. Ich steige aus. „50 € werden nicht ganz reichen“, sage ich und mache beiläufig Fotos von ihrem Wagen und meinem Schaden. „Der Kotflügel ist eingedrückt und das Rücklicht ist zerbrochen. Das wird schon einige 100 € kosten, nehme ich an.“ Sie spricht weiter ernst in ihr Handy und lächelt schließlich. „Mein Schwager wird gleich kommen.“
Und dann kommt er. In der größten Mercedes Limousine, die ich jemals gesehen habe. Neuestes Modell. Schwarz und nagelneu – oder zumindest erst heute Morgen gewaschen und poliert. Die Menschen in Indien sind schön, aber dieser Mann ist schön jenseits jeder Beschreibung. Das grau melierte Haar unterstreicht seinen Teint und überhaupt … fehlen mir im Moment die Worte. Er hat einen Unfallbericht mit und auch die Fahrzeugpapiere für das weiße Raumschiff. Ob ich wohl den Unfallbericht ausfüllen könnte? Seinen Mont Blanc Stift stellt er gerne zur Verfügung. Natürlich macht er das nicht selbst. Das ist mir augenblicklich klar. Wahrscheinlich tut das sonst sein Privatsekretär. Schade nur, dass er ihn nicht mitgebracht hat…
Mir ist kalt und irgendetwas stört mich. Ich will hier weg. Ich will das hinter mich bringen. Ich lege meine Aktenmappe auf die Kühlerhaube und schreibe Namen ab, Buchstabe für Buchstabe – einer schöner als der andere. Aus einer anderen Welt. Fülle kleine Kästchen aus, die immer viel zu kurz sind für 27 Ziffern-Buchstaben-Kombinationen von Polizzen oder Adressangaben und beschreibe das, was passiert ist und schwer zu glauben. Aber das ist nicht mein Problem. „Möchten Sie es lesen?“, frage ich die beiden, die sich familiär unterhalten haben, während ich geschrieben habe. „Oh nein“, sagt der Botschafter sanft – er muss mindestens Botschafter sein – „schreiben Sie nur, was Sie wollen.“ Das ist mir gar nicht recht. Ich unterschreibe den Bericht und reiche ihn der schönen Frau mit den langen, gesenkten Wimpern. „Bitte lesen Sie den Bericht durch und unterschreiben Sie ihn.“ Der Botschafter greift sich nachdenklich ans Kinn. „Könnten wir nicht den Unfall auf meinen Wagen schreiben?“, meint er. „Meine Versicherung ist viel flexibler.“ Ich überhöre seine Bemerkung, weil sie eines Botschafters nicht würdig ist, und wedle nun mit dem Blatt Papier in Richtung seiner Schwägerin. Ich drücke ihr auch den Mont Blanc Stift in die Hand. Ihre Unterschrift ist ungefähr einen Zentimeter breit und vier Millimeter hoch. Ein Strich und zwei Zacken. Wahrscheinlich genügt das, wenn man so schön ist, denke ich hilflos. Außerdem hat sie auf der Seite des Geschädigten anstelle des Verursachers unterschrieben… Aber ich bin großzügig geworden in der Zwischenzeit und der Pfeil, mit dem ich ihre Unterschrift verschiebe, ist ebenso großzügig.
Dann verabschieden wir uns. Ein freundliches Lächeln auf beiden Seiten. Handshake. Sein Griff ist sanft und dennoch kräftig. Von ihr bekomme ich nur die Fingerspitzen. „Sorry again“, sagt sie leise. Aber ich habe sie auch perfekt Deutsch sprechen gehört. Sie ist nicht nur schön, sie kann auch fast alles. FAST alles, denke ich. „Es war mir eine Freude“, sagt der Herr Botschafter. Dann fährt er als Erster fort.
Wir Frauen steigen in unsere Wagen. Ich sehe noch, wie sie sich nach mir umdreht im Fahrersitz. Einen Augenblick lang scheint es, als wollte sie mir winken. Dann sieht sie wieder nach vorne. Lässt den Motor an. Steigt aufs Gas und fährt mit dem Rückwärtsgang geradewegs in meinen Kühlergrill und meine Scheinwerfer.
Ich sitze fassungslos und vergesse sogar, bis drei zu zählen.
Du lieber Gott! Womit habe ich die Schönheit Indiens an diesem Freitag verdient…