Arabian Connections 2006
Als wir in Kona auf Hawaii das silberne Flugzeug verlassen, das aussieht, als hätte es schon im zweiten Weltkrieg gedient, haben wir 26 Stunden in drei verschiedenen Maschinen hinter uns. Ganz zu schweigen von den Aufenthalten in zwei Flughäfen. Frankfurt war kurz und noch ganz angenehm. Aber dann kam San Francisco… Als der Sinkflug auf San Francisco begann, hatte ich doch tatsächlich die berühmte Brücke vor meinem inneren Auge und eine vage Impression von Flower Power, bunten Kleidern, Frohsinn, Liebe und so weiter. Noch wusste ich nicht, dass ich hier nicht erwünscht zu sein schien. Schon in der langen Warteschlange wurden Amerikaner von Nicht-Amerikanern getrennt. Was mit den Amerikanern passierte, weiß ich nicht. Aber ich nehme an, sie gingen ins Licht. Wir anderen gingen jedenfalls in einen spärlich beleuchteten Betonbunker. Dort wurden wir nach Nationalitäten getrennt. Na ja, nicht ganz. Europäer, Asiaten, Afrikaner, Inuit, Schweden. Ein System war nicht zu erkennen. Dass wir unsere Fingerabdrücke abgeben mussten, wusste ich schon. Das stand auf Zettel Nr. 3, den wir im Flugzeug erhielten. Überhaupt bekam jeder sehr viele Zettel, auf denen viele Anweisungen standen. Wir reisten zu fünft. Meine Freundin Uschi und ich mit unseren insgesamt drei Kindern – alle zwischen sieben und neun. Meinen Fragebogen hatte ich brav ausgefüllt, Marlenes auch. Sie war acht. Ich kam als Erste dran. Weil ich vorne stand. Hinter mir die drei Kinder. Dann Uschi. So machten wir das immer. Eine steht vor, die andere hinter den Kindern. So geht keins verloren. Ich schob meinen Pass durch den schmalen Schlitz unter der Scheibe, die mich von der Frau dahinter trennte, und sie nahm ihn und legte ihn nach unten in einen Bereich, den ich nicht einsehen konnte. Dann tat sie verschiedene Dinge, die ich nicht sah. Sie schien eine Tastatur zu bedienen, auf Bildschirme zu sehen. Erst links, dann frontal. Dann runzelte sie die Stirn, sah mich kurz an und begann nochmal von vorne. So schien es mir. Ich wartete und warf einen Blick zurück zu meiner kleinen Reisefamilie. Ich lächelte ihnen zu und war erstaunt, dass nur Marlene zurücklächelte. Uschi schaute ernst. Die Menschenschlange an der Kabine nebenan bewegte sich rascher voran. Uschi weiß immer alles schneller. Als die Frau in ihrem Kasten das nächste Mal aufschaute, war ihr Blick lange. Ich lächelte, aber das beeindruckte sie nicht. Sie sagte etwas, was die Glasscheibe verschluckte, und stand auf. Sie öffnete eine Tür linker Hand und ich war sehr erfreut, zu sehen, dass sie diesen Kasten auch wirklich verlassen konnte. Sie war mir so verwachsen mit ihrer Kabine vorgekommen. Als ich mich ihr zuwandte – schließlich wollte ich meinen Pass wiederhaben – standen zwei Beamte hinter mir. Der Mann wies zu einem Tisch mit Gerät, die Frau hielt meinen Pass. Aha, dachte ich, Fingerabdrücke sind dran. Auf dem Formular hatte ich gelesen, dass nur Daumen und Zeigefinger abgenommen werden. Von mir wollten sie alle zehn Finger. Da ich nicht vorhatte, mir in Amerika auch nur das Geringste zuschulden kommen zu lassen, fand ich nichts dabei. Im Flugzeug noch hatte ich Marlene erklärt: „Weißt du, die Amerikaner haben jede Menge Probleme mit arabischen Terroristen. Da brauchen sie Fingerabdrücke der Einreisenden. Das machen sie zu ihrem Schutz. Das ist ganz okay.“
Dann nahm der Mann meinen Arm. Das mochte ich nicht. Er wies mit der freien Hand auf eine Glaskabine in der Nähe. Ich wandte mich um und sah nur Marlenes Blick und dass die Frau Uschi und die Kinder durchwinkte. Dann ging ich mit. In der Kabine waren wir wieder zu dritt. Sie wiesen auf einen Sessel. Die beiden standen. Sie trugen Uniformen und keine freundlichen Gesichter.
„Zu welchem Zweck sind Sie in die Staaten gekommen?“ „Wir wollen nach Hawaii fliegen. Urlaub. Wir sind zwei Frauen und drei Kinder.“ „In welchem Hotel werden Sie wohnen?“ „Kein Hotel. Es wurde ein Privathaus gemietet. Für insgesamt elf Personen. Alles Ärzte und Therapeuten.“ „Welcher Nationalität sind die anderen?“ „Das weiß ich nicht. Ich kenne sie noch nicht. – Die meisten sind aus Österreich, habe ich gehört.“ „Sie sind zum ersten Mal in den Staaten?“ „Ja.“ „Sie waren in Jordanien. Wann war das?“
Mit dieser Frage verblüffte er mich. Woher wusste er das? Mein Pass war neu. Und Jordanien war lange her. Ein Stempel von dieser Reise konnte unmöglich in diesem Pass sein.
„Genau weiß ich das nicht. Ich habe ein schlechtes Zeitgefühl. Ist vielleicht 20 Jahre her.“ „Zu welchem Zweck waren Sie da?“ „Es war eine Besichtigungsreise.“ „Waren Sie alleine da?“ „Nein. Mit einer Gruppe Archäologen.“ Sie tauschten Blicke. Es war kurz still und ich schaute durch die Scheibe zu den anderen. Uschis Miene war steinern. Dominik grinste. Melanie wusste nicht recht, wie sie schauen sollte. Eigentlich sah ich nur Marlene. Sie stand da und sah mich an. Regungslos.
„In welcher Verbindung stehen Sie zu den arabischen Staaten?“ Ich wandte mich wieder zurück und sah den Mann verwundert an. „In gar keiner.“ „Haben Sie Kontakt zu arabischen Organisationen?“ „Nein.“ „Kennen Sie Araber?“ „Wahrscheinlich schon. Da muss ich nachdenken. Doch. Einen Iraner. Er produziert Hyaluronsäure in Wien und wollte von meiner Firma Kunststoffbehälter dafür…“ Irrte ich mich oder war er verärgert? Er zog die Augenbrauen hoch. „In welcher Verbindung stehen Sie zu den arabischen Staaten?“ „In gar keiner.“ „Haben Sie Kontakt zu arabischen Organisationen?“ „Nein.“
Ich hätte ihm gerne gesagt, dass er sich wiederholte, aber irgendwie war die Stimmung auf einem Tiefpunkt angekommen. Das konnte ich deutlich spüren. Der Mann strecke seinen Rücken durch, gab der Frau ein Zeichen. Er sagte, ich solle sitzen bleiben. Dann gingen sie.Wieder sah ich zu Marlene hinüber. Sie stand noch genauso wie zuletzt. Ihr Blick war besorgt. Sie wollte wissen, was da mit mir geschah. Ich wollte das auch gerne wissen.
Ein anderes Paar kam. Die Uniformen sahen anders aus und hatten Ausbuchtungen unter dem Sakko. Ich wollte gar nicht wissen, wovon. Keiner von beiden schien meinen Pass bei sich zu haben. Das machte mir Sorgen. Der Mann zauberte einen zweiten Sessel in dieser kleinen Kabine hervor, setzte sich direkt vor mich hin und sah mir im Abstand von etwa 40 Zentimetern ins Gesicht. „Wir wissen, dass Sie Kontakte zu arabischen Organisationen pflegen.“ Sein Tonfall schien keinen Widerspruch zu dulden. „Das stimmt nicht“, wandte ich ein, „ich habe keinerlei Kontakte zu irgendwelchen arabischen Organisationen.“ „Ich könnte es beweisen.“ „Das kann nicht sein, weil ich keine Kontakte habe.“ „Und wenn ich es trotzdem beweisen kann?“ „Dann verwechseln Sie mich.“ Die Frau hinter ihm räusperte sich. „Erzählen Sie uns, welcher Art ihre Kontakte sind“, sagte sie, „jede Art von Kontakten. Auch wenn sie Ihnen unerheblich erscheinen. Wir wollen wissen, welche Kontakte Sie haben. Und vielleicht Namen.“ „Es tut mir leid“, sagte ich, „ich habe keine Kontakte.“ Die Frau drehte sich um und sagte etwas in ein Walkie-Talkie. Der Mann holte ein paar zusammengerollte Zettel aus seiner Jackentasche und studierte sie eingehend.
Mein Vater fiel mir ein. Was er mir erzählt hatte aus seiner Zeit in der Widerstandsgruppe im zweiten Weltkrieg. Für den Fall, dass einer von ihnen von der Gestapo verhört werden sollte, galt der Spruch: „Sagst du ja, bleibst du da. Sagst du nein, gehst du heim.“ Es kam mir irrwitzig vor, dass mir dieser Spruch nun einfiel. Ich zerbrach mir den Kopf, worauf all diese Fragen zielten. Ob sie mich tatsächlich verwechselten? Das schien offensichtlich. Denn ich hatte nie in meinem Leben Kontakt zu arabischen Organisationen unterhalten. Mir war kalt.
Der Mann ließ seine Zettel sinken. Er klang wie ein Automat. „In welcher Verbindung stehen Sie zu den arabischen Staaten?“ „In gar keiner.“ „Haben Sie Kontakt zu arabischen Organisationen?“ „Nein.“ Da beugte er sich wieder vor und brachte sein Gesicht dicht an meines. „Sie haben an arabische Organisationen gespendet. Also haben Sie Kontakt zu ihnen.“ Er ließ seine Worte wirken. Und die Wirkung war gewaltig. Mein Erinnerungsvermögen begann zu arbeiten und lief acht Jahre zurück. In jene kleine, steril wirkende Kammer. Weiß und hellgrün und kalt. Kälte und Angst… Ich drehte mich um und schaute zu Marlene hinaus. Sie stand da und ließ mich aus der Entfernung nicht aus den Augen. Eine Welle von Zärtlichkeit erfasste mich, als ich sie so stehen sah. Sie machte sich Sorgen um mich. So wie ich mich damals um sie sorgte. Als sie als Baby sechs Stunden am offenen Herzen operiert worden war. Um überleben zu können. Um dieses Leben erfahren zu können. Und während ich auf den Ausgang der Operation gewartet hatte, hatte ich ihn kennengelernt. Im Warteraum, direkt vor dem OP. „Sehen Sie dieses Kind da draußen?“, sagte ich, immer noch mit Blick auf Marlene. Er antwortete nicht. „Das Mädchen in Jeans, rosa Sweater und bunten Schuhen?“ Ich sah ihm ins Gesicht. „Dieses Kind ist im Alter von drei Monaten am Herzen operiert worden. Sechs Stunden lang. Das war in Deutschland. Ich wartete vor dem Operationssaal. Neben mir saß ein Mann, Al Shamisi. Ich werde seinen Namen nie vergessen. Denn sein Sohn hat die Operation nicht überlebt. Sechs Stunden sind lang, wissen Sie?“ Sie sahen mich beide unverwandt an. „Er hat mir viel erzählt. Unter anderem, dass es in seinem Land viele Kinder mit Herzfehlern gibt, die nicht operiert werden können, weil das Geld fehlt. Es wurde eine Organisation gegründet, die Spenden sammelt, um diesen Kindern zu helfen.“ Die Gesichter der beiden waren noch immer unbewegt, aber ihre Augen flackerten leicht. „Sechs Stunden hat er vor dem OP gewartet, um dann zu erfahren, dass sein einziger Sohn nicht mehr lebte. Er war schon neun Jahre alt. Verstehen Sie? Seine Liebe zu seinem Sohn war neun Jahre alt. Er war noch da – lautlos schluchzend – als ich die Nachricht erhielt, dass meine Tochter lebte.“ Ich hielt ihre Blicke fest und lenkte sie mit meinem Blick wie auf Schienen auf Marlene draußen. Sie sah, dass von ihr die Rede war, aber sie verzog keine Miene. „Als ich mit dem Kind wieder zu Hause war, kam nach einigen Wochen ein Spendenaufruf dieser Organisation für herzkranke Kinder, in einem arabischen Staat, dessen Namen ich nicht mehr weiß. Ich habe ein paar Mal gespendet.“ „Woher hatte diese Organisation Ihre Adresse?“, fragte der Mann. Seine Stimme war interessiert, aber es war ihr jeglicher Wille zu drängen abhanden gekommen. „Wenn zwei völlig Fremde stundenlang nebeneinander auf das Überleben ihrer Kinder warten, tun sie Dinge, um sich irgendwie Normalität vorzutäuschen. Um nicht verrückt zu werden vor Angst, wissen Sie? Zum Beispiel Adressen austauschen.“ Sie tauschten einen langen Blick. Er öffnete die Tür für mich, während die Frau in ihr Walkie-Talkie sprach. Eine andere Frau brachte meinen Pass und winkte meine kleine Familie herbei. Zu dritt führten sie uns durch die Kontrollen. Als sie uns schließlich in Richtung Kofferausgabe entließen, hatte ich einen Moment lang das Gefühl, als wollte mir der Mann die Hand geben. Aber dann tat er es doch nicht. Sie nickten uns nur zu und gingen zurück in ihren grauen, kalten, Gefahr witternden Betonkeller.
Marlene war noch eine ganze Stunde lang enttäuscht, weil sie vergessen hatten, ihre Fingerabdrücke abzunehmen. Es war ein gutes, warmes Gefühl, als sie ihre Hand schließlich in meine legte.