Reisen in der Erinnerung

Gerade für das Jahr 2020 hatte ich mir etliche Reisen vorgenommen, weil ich jetzt endlich die Zeit dazu habe. Schon im letzten Herbst habe ich mir mit Genuss eine Liste angelegt. Da ich nicht wusste, wie ich beginnen sollte und welche Ziele ich auswählen sollte, habe ich mich eines Tages in die spätherbstliche Sonne auf meine Terrasse gesetzt und die Augen geschlossen. Sofort tauchten Bilder aus meiner Erinnerung auf – von Orten, die ich auf zahlreichen Reisen mit meiner Mutter vor vielen Jahren kennengelernt habe. Meine Mutter reiste damals gern organisiert, mit Reiseleitung. Das schloss sehr oft Zeitlimits ein, denen ich mich gern entzogen hätte. War der Sonnenuntergang auf Capri auch noch so schön zu beobachten – es galt, ein Schiff zu erreichen, das die Insel pünktlich verließ. Schmeckte der Campari mitten im Gewühl auf der Piazza Navona auch noch so gut – der Bus wartete, um uns die Via Appia zu zeigen. War das Treiben auf dem Fischmarkt von Marseille auch noch so spannend – es galt einen Zug zu erreichen. Jedes Mal schwor ich mir: wenn ich zurückkomme, dann mit mehr Zeit. Die Schlösser an der Loire, die Herden wilder Pferde der Camargue, die einsamen Highlands von Schottland – überall wünschte ich mir mehr Zeit, um richtig zu genießen und die Stimmung aufzunehmen, ohne dass das hupende Horn eines Busses oder der Terminplan eines anderen Verkehrsmittels mich daran hinderten. Und 2020 wollte ich beginnen, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen.     Wo sollte ich also beginnen?Taormina stand ganz oben auf meiner Liste. Dort wollte ich so gern ein weiteres Mal im alten Amphitheater, hoch oben auf dem Berg, ein Konzert hören, bei Einbruch der Dunkelheit, während der Blick weit hinunter schweifen kann auf die erwachenden Lichter der Bucht von Naxos und dann hinüber zu den dramatisch aufsteigenden Rauchschwaden des Ätna.

Dann wollte ich wieder nach Capri. Ich hatte so wunderbare Erinnerungen daran in meinem Kopf. Die Berichte, dass die Insel heute vollkommen überlaufen ist, hinderten mich nicht. Ich würde schon ein ruhiges Plätzchen finden – irgendwo oben auf dem Berg, in dem verwunschenen Örtchen Anacapri, das ich einmal an einem heißen Sommernachmittag fast menschenleer erlebt hatte.

Ich wollte wieder nach Dänemark und dort die Küste nördlich von Kopenhagen zu Fuß erkunden, die ich damals nur sehnsüchtig durch ein Busfenster gesehen und die mich so begeistert hatte. Beim Geburtshaus von Tanja Blixen wollte ich Halt machen können, um mir anzusehen, wie diese fantasievolle Geschichtenerzählerin gelebt und gewohnt hatte.

Und dann schwebte mir noch der Mont-Saint-Michel vor, den ich noch nie gesehen habe – aber meine Mutter war zweimal dort und konnte gar nicht aufhören, davon zu schwärmen.

Wunschbild um Wunschbild tauchte auf und es war gar nicht leicht, auszuwählen. Vier Ziele waren es schließlich, die in die enge Wahl kamen, und weil ich mich nicht entscheiden konnte, beschloss ich, sie alle wahr zu machen. Im Jahr 2020.

Ich setzte mich hin und machte einen Zeitplan, damit der Urlaub mit Familie nicht zu kurz kommt und auch, um die beste Jahreszeit für die einzelnen Ziele zu finden. Das Jahr mit seinen Reisen war festgelegt. Ich lehnte mich zurück – voller Vorfreude.

 

Und dann kam Corona. Die Träume zerplatzten. Einer nach dem anderen.

Erst strich ich den Mont-Saint-Michel, denn dorthin wollte ich im Mai. Dann wurden die Konzerte in Taormina gestrichen und so ging es fort. Ich muss nicht erwähnen, dass das, was ich anfänglich als eine Verzögerung von mehreren Wochen betrachtete, sich auf unbestimmte Zeit verschob.

Heute regnet es. Es ist ein Tag im September und immer noch warm genug, sodass ich auf der überdachten Terrasse frühstücken kann. Der Regen fällt so fein, dass ich ihn kaum sehen kann gegen die Büsche und Bäume im Garten. Aber hören kann ich ihn. Es ist ein leises Geräusch, ein beruhigendes. Es hat etwas Hypnotisches an sich und ich schließe die Augen. September, denke ich. Eigentlich wollte ich da auf Capri sein.

Capri.

Ich denke an den steilen Fußweg, den ich auf den Monte Solaro hinaufgestiegen bin, während meine Mutter damals den Sessellift nahm. Oben haben wir einander getroffen – sie frisch und fröhlich und bereit für einen Spaziergang auf dem Gipfel, ich ziemlich erschöpft und atemlos. Gemeinsam haben wir den atemberaubenden Ausblick genossen. Ich sehe die Faraglioni Felsen vor der Küste – wie verstreut hingeworfen ins Meer liegen sie dort. Ich schaue hinaus aufs Meer, verfolge eine große Segeljacht mit den Augen, die sich dem äußersten Felsen vorsichtig nähert, dann elegant wendet und wieder hinausgleitet aufs Meer. Mit unbekanntem Ziel. Ich spüre sogar die Sonne auf meinem Gesicht und den Wind im Haar. Ich überlege, ob ich später dann – nach dem Abstieg – durch Anacapri schlendern soll, um irgendwo im Schatten ein Glas Rotwein zu trinken, oder ob ich doch noch die blaue Grotte besuchen soll. Das könnte ich auch morgen tun. Ich glaube, ich bleibe noch ein wenig hier auf dem Gipfel des Monte Solaro und freue mich auf dieses Glas Wein – später dann.

Ich reise in diesem Jahr in meiner Erinnerung und Kraft meiner Fantasie. Ich bin froh, dass ich sie habe – sie lässt mich nur selten im Stich. Wenn ich es genau bedenke – fast nie. Ich bin auch froh, dass dieses Geräusch des leise fallenden Regens, diese mesmerisierende Klangkulisse, mir hilft. Beim Reisen – zu Zeiten von Corona.