Sanfte Riesen
Heute Morgen berichtete ein Sprecher in den Nachrichten über einen amerikanischen Politiker und gebrauchte den Vergleich mit Hannibal, der mit Hilfe von Elefanten die Alpen überquerte. Sofort fraß sich meine Vorstellung an diesem Bild fest, das mich schon immer fasziniert hat. Und während ich keine Ahnung mehr habe, in welchem Zusammenhang dieser Vergleich gebracht wurde, frage ich mich wieder einmal, wie ist es den Menschen nur möglich gewesen, Elefanten zu zähmen? Wie?
Im Bruchteil einer Sekunde finde ich mich wieder auf dem Rücksitz der kleinen weißen Lada mit Innenkäfig. Verstärkte Karosserie. Vorne und hinten eine Eisentraverse anstatt einer Stoßstange. Nicht die Spur von Bequemlichkeit. Die Sitze hart, hart, hart. Ich sitze hinter dem Fahrer. Alex fährt. Alex. Riesengroß, ein Gesicht voller Narben – woher auch immer. Ein Mann voller Tatkraft und dennoch unendlich sanft. Ein Ruhepol. Wir mussten uns nicht lange kennenlernen, um einander wirklich zu mögen. Alex ist Sportreporter, seine Radiostimme eine Legende im Rennsport. Neben ihm Peter, Sportredakteur, Spezialist für Rallye Filme. Früher einmal „mein Sportreporter“, jetzt ein guter Freund, der mich überredet hat, mit ihm und seinen besten Freunden für zwei Wochen durch Kenia zu fahren. Und neben mir Kristin, Alex‘ Frau. Sie promotet in der Musikszene. Sie ist mit Abstand die Jüngste im Wagen.Vor einer halben Stunde haben wir den Auspuff zum zweiten Mal an diesem Tag wieder aufgehängt. Mit mäßigem Erfolg. Wir röhren durch die Savanne. Der letzte Reservereifen ist verbraucht, seit wir durch ein breites Flussbett gefahren sind, das eigentlich ausgetrocknet hätte sein sollen. War es aber nicht. So ist das in der Regenzeit im Dezember in Kenia. Mitten im Flussbett mussten wir den Reifen wechseln. Während das Wasser bei der Fahrertür hinein und bei der Beifahrertür wieder hinauslief. Wir sehen aus wie Schweine – mit Ausnahme von Kristin. Sie sitzt bei solchen Gelegenheiten auf dem Dach, als Wache. Bis zu den Oberschenkeln sind wir nass. Ich bin leider auch darüber nass, weil ich es für eine gute Idee gehalten hatte, meinen geliebten Overall anzuziehen. Der Stoff zieht die Nässe nach oben und ich sitze wie in einem nassen Umschlag. Jetzt brauchen wir dringend eine Lodge. Denn jede Lodge hat eine kleine Werkstätte. Und Reifen. Und Zimmer mit Dusche. Und Whiskey mit und ohne Soda. Alex liebt Bourbon.Wenn wir auf der Hauptfahrbahn bleiben, die nicht mehr als eine bessere Piste ist, schaffen wir die Distanz bis zur nächsten Lodge nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Peter hat das ausgerechnet. Aber es gibt eine Abkürzung, die zwanzig Kilometer bis zum Mara-Fluss spart. Die nehmen wir. Der Zustand dieser Piste ist eindeutig schlechter. Immer wieder muss Peter aussteigen, um Hindernisse von der Fahrbahn zu entfernen. Ich wechsle auf den Beifahrersitz. Peter ist erschöpft. Nach seinem schweren Autounfall vor vielen Monaten hat er sich wirklich gut erholt. Die Chirurgen hatten Meisterleistungen vollbracht. Kieferbruch, Zähne verloren, fast alle Rippen gebrochen, vom Becken abwärts so ziemlich alles gebrochen, was brechen kann. Seine Beine stecken voller Platten und Nägel. Fast ein Jahr vor diesem Unfall hatten wir uns getrennt.Und nun, ein Jahr danach, fahren wir als Freunde, die einander sehr gut kennen, wieder durch Afrika. Es bedeutet ihm so viel, wieder hier zu sein. Die Arbeit, ständig auszusteigen, kann ich ihm leicht abnehmen. Alex tut, was er kann. Und ich räume weg, was den Weg versperrt. Eine kleine Baumgruppe taucht links vom Weg auf und als wir näher kommen, erkennen wir, dass der Weg durch diese Baumgruppe hindurchführt.
Elefanten! Wer von uns war der Erste, der es ausgerufen hat? Eine kleine Herde von sieben oder acht Elefanten steht unter den Bäumen. Mitten auf dem Weg. Alex schaltet zurück. Dann bleibt er stehen. „Shit“, sagt er. Er wischt sich über das Gesicht und verschmiert damit das, was bisher eine gleichmäßige Schicht aus braunem Staub war, zu einem abenteuerlichen Camouflage-Muster. Dann lehnt er sich mit beiden Armen auf das kleine Lenkrad und starrt ratlos durch die Windschutzscheibe. „Warten wir“, sagt Peter. „Fahr näher ran“, sagt Kristin, „ich könnte durch die Windschutzscheibe fotografieren.“ „Vielleicht können wir sie vertreiben“, meint Alex. Er lässt die Lada, ein recht bissiges Rallye-Testfahrzeug, und wegen des notdürftig befestigten Auspuffs jetzt auch noch laut, langsam auf die Herde zurollen. Wir sind noch etwa siebzig Meter entfernt von jenem Tier, das uns am nächsten steht. Es ist eine kleinere Elefantenkuh, die uns ihr Hinterteil zeigt. Es entsteht Bewegung in der Herde. Und dann sehen wir es. Und wir sehen es alle gleichzeitig. Nur ganz kurz. Für einen Wimpernschlag lang sehen wir das Elefantenkalb, das so rührend winzig unter all den massigen Körpern der anderen Tiere erscheint. Sofort verdecken die Elefanten mit ihren Körpern diesen Anblick wieder. „Ein Kalb“, Alex schreit es fast. Legt den Rückwärtsgang ein, dass es kracht, und wirft sich herum, um durch die Heckscheibe sehen zu können. Augenblicklich kleben Kristin und Peter an den Seitenscheiben. Das ist der Moment, in dem der Motor abstirbt. Ein kleiner Moment Stille. Stille, die in den Ohren dröhnt. Alex‘ Gesicht läuft rot an unter seiner Camouflage. Er quält den Starter. Ohne Erfolg. Stille. Vor unserer Windschutzscheibe hat sich ein Bulle in Stellung gebracht. Er ist groß wie ein Berg. Mitten auf dem Weg prescht er drei Schritte auf uns zu. Nur drei. Mit gesenktem Kopf. Dann stoppt er hart, wirft gleichzeitig den Kopf nach oben, dass seine aufgestellten Ohren wie Segel schwanken. Sein linkes Bein stampft ein paar Mal auf. Steine fliegen, eine Staubwolke steigt auf.„Alex, weg hier!“ Kristins Stimme ist schrill vor Entsetzen.Der Bulle prescht wieder vor. Wieder drei Schritte. Dasselbe Schauspiel wie zuvor. Ein faszinierendes Schauspiel. Ich bin mir nicht sicher, ob seine Körperbewegungen seine Ohren bewegen oder ob er es bewusst tun kann. Seine Ohren sind riesengroß und ihre Bewegungen signalisieren Gefahr. Äußerste Gefahr. Äußerste Bereitschaft zum Angriff. Mehr noch als sein Stampfen. Hinter ihm bleibt die Herde zurück. Sie hat sich um das Kalb geschart und bewegt sich langsam vom Weg fort, um sich in den Schutz der Bäume zu begeben. Sanfte Riesen, die alles tun würden, um ihre Kinder zu schützen. Und sie verlassen sich auf den Bullen, der ihnen den Rücken freihält. Ein Familienverband, der weiß, was Taktik ist.Der Bulle hält jetzt seine Position. Sein massiger Körper bewegt sich seitwärts hin und her. Er lässt ihn schwanken. Unablässig. Er lässt seine Ohren flattern. Stampft immer wieder auf, sodass kleine Steinlawinen zur Seite prasseln. Aber er steht.Wieder versucht Alex, zu starten. Wieder ohne Erfolg. Aber das Geräusch lässt den Bullen wieder vorpreschen. Drei Schritte. Ich habe mitgezählt. Ich kenne ihn jetzt, diesen Bullen. Er ist schon so nahe, dass ich die Hautfalten zittern sehen kann, wenn er hart stoppt. So hart, dass seine Ohren ihn überholen, wenn er den Kopf aufwirft. Ich kann seine Augen sehen. Sie sind auf uns gerichtet. Wir sind der Feind. Wir bedrohen seine Familie.Ich verstehe dich. Ich würde dir gerne sagen, dass wir genau das nicht tun wollen. Aber das kann ich nicht. Ich bin ein Mensch. Du bist ein Elefant. Ein großer. Und jetzt gerade hast du die Macht, uns umzubringen. Vielleicht. Aber verstehen kann ich dich. „Aleeex!!“ Kristins Stimme kreischt. Alex quält den Starter. Der Motor springt an, Alex wirft sich erneut herum, der Motor heult auf, der Wagen springt förmlich nach hinten weg und jagt dann im Rückwärtsgang die Piste zurück. Nicht weit – etwa vierzig Meter. Dann stirbt der Motor wieder weg.
Meine Augen haben den Bullen nicht verlassen. Das Starten hat ihn wieder angreifen lassen. Zwei Angriffe lang hat er uns verfolgt. Welche Anmut liegt in seinen Bewegungen. Wieviel Bereitschaft zum Kampf, um seine Herde zu schützen. Ich verstehe dich. Ich verstehe dich.
Dann ist Stillstand auf beiden Seiten. Der Bulle steht und wir stehen. Aber wir haben eindeutig nachgegeben. Wir sind zurückgewichen. Und wir starten auch nicht mehr. Wir sitzen im Wagen. Wir empfinden die Hitze nicht mehr, das Blut rauscht uns in den Ohren, jeder von uns hält den Atem an. Wir starren und hoffen. Wir sehen, wie seine Beine aufhören, zu stampfen. Wir sehen, wie sein Schwanken zur Seite sanfter wird. Wie die Wildheit weicht. Wie er aufhört, seine Ohren zu schwenken. Und dann steht er ganz still, minutenlang. Minuten, die uns unendlich lange vorkommen, bis er mit einer unglaublich anmutigen Bewegung den Kopf zur Seite wendet, die Ohren angelegt. Sein ganzer Körper folgt dieser Bewegung. Der Bulle dreht ab und geht mit langsamen, bedächtigen Schritten der Herde nach, die die Baumgruppe schon durchquert hat und nun jenseits davon auf die freie Savanne hinauszieht. Er kann es sich erlauben, langsam zu gehen. Er ist der Sieger.
Wir verfolgen sie lange mit dankbaren Blicken, bevor Alex erneut startet. Der Motor springt an, als wäre nichts gewesen. Rein gar nichts. Brav und verlässlich wie ein Glockenspiel. Alex fährt sich mit der rechten Hand über das Gesicht. Von oben nach unten. Jetzt hat seine Camouflage vier helle Streifen. Jeder Navajo hätte ihn um diese Kriegsbemalung beneidet. Ganz langsam durchqueren wir die Baumgruppe, erst danach gibt er Gas. „Alex, der Auspuff“, warnt Peter. „Scheiß auf den Auspuff“, knurrt Alex zwischen den Zähnen, „in der Lodge wartet heute mehr als nur ein Whisky auf mich.“